Wer kontrolliert die Ämter ? (2)

Berthold schafft es nicht, mit mir Teil 2 dieses Gesprächs fortzusetzen. Er hat zu viel zu tun; er kommt einfach nicht dazu. Das ist traurig für mich, aber ich bin ja diesbezüglichen Kummer gewöhnt. Ich will mich in meiner Not eines Kunstgriffes bedienen, zumal ich meinen Teil, zumindest als Anfang des fortgesetzten Gesprächs, schon geschrieben hatte. Ich mach’s wie bei der Familienaufstellung, nehme mich als Stellvertreter von Berthold, fühle mich in ihn ein und schreibe für ihn als er („KarlfürBerthold“).

Damit bringe ich mich selbst ein, genauso wie die systemische Logik des bisherigen Textes. Und ich halte auch Berthold bei der Stange, den ich seit Jahrzehnten gut kenne, setze das Seinige fort, natürlich auf meine subjektive Weise. Ich muss ihn nicht treffen, schreibe möglicherweise an ihm vorbei, aber zu einem von ihm gesetzten Thema: Was ist mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die andere gefährden? Müssen sie raus aus ihrem Familiensystem oder kann man ihnen und denen, die sie gefährden, auch helfen, wenn sie im System bleiben?    

Karl: Ich kann nicht anders, ich muss Worte ernst nehmen, lieber Berthold. Du hast „Pause für Wanzka“ ins Spiel gebracht und fürchtest nun, dass sie – bzw. das Buch von Alfred Wellm – vom eigentlichen Thema, das in der Überschrift steht, ablenkt.

Ich hatte ja versprochen, mir dieses Buch noch einmal vorzunehmen. Das habe ich getan und gemerkt, es hat mit dem obigen Thema zu tun, sogar viel. Lehrer Gustav Wanzka, der vorher Kreisschulrat war, übernimmt auf seine alten Tage, drei, vier Jahre vor seiner Rente noch einmal eine 5. Klasse in einer Dorfschule.

Seine Schüler fangen Sperlinge, um Eulen, die in ihrer Gefangenschaft sind, damit zu füttern. Ein verängstigter Spatz entkommt der Hosentasche eines Jungen und flattert panisch durch das Klassenzimmer. Die ganze Klasse gerät in einen Rausch und versucht, das arme Tier zu fangen. Es geht alles drunter und drüber. Andere Lehrer kommen herein, Sportlehrer Seiler schafft mit zwei heftigen Schlägen mit einem großen Holzlineal, das er von der Wand genommen hat, Ruhe, ohne ein Wort zu reden.

Wanzka war zuvor mit seiner Stimme machtlos gegen das Tohuwabohu, das in der Klasse herrschte. Mit wenigen Worten fand Seiler die Schüler heraus, die hauptverantwortlich für das Spektakel waren und verpasst ihnen eine mindestens dreiseitige Strafarbeit mit dem Titel „Die Vögel sind ein Stück der Heimat, darum muss ich sie lieben und behüten“ (S. 69).

Wanzka steht daneben und ist peinlich berührt, so hilflos gewesen zu sein. Er sagt sich: „Dabei war es gar nicht sein Verdienst [das Seilers], der Sperlingsrausch war fast vorüber… Jeder Rausch hat auch sein Ende. Und sie waren ja schon nicht mehr halb so laut, als er in die Klasse kam.“ (S. 70)

Hemmungsloses Verhalten mit einem „Rausch“ zu entschuldigen, gefällt mir gar nicht. Ich finde es schon ärgerlich genug, dass Gewalttäter die Schuld an ihren Übeltaten auf den Alkohol oder andere Drogen schieben und damit oft genug in unserer Gesellschaft durchkommen.

Aber noch mehr irritiert mich, wie sich Wanzka kurz darauf im Lehrerzimmer äußert. Über Tierliebe zu sprechen, um das Ereignis mit der Sperlingsjagd aufzuarbeiten, wie Seiler noch im Klassenzimmer vorgeschlagen hatte, sei nicht nötig. Die Reaktion Seilers im Klassenzimmer würde reichen: „Das war sehr vollkommen – bis auf die Strafarbeit. Ich weiß nicht recht, das ist wohl auch verboten.“

Das ist eine schwache Leistung für einen Lehrer, der gerade noch Kreisschulrat war. Er müsste das genau wissen. Und seine Kollegen führen ihm auch sofort vor Augen, wie lächerlich das Verbot von Strafarbeiten ist: „Pädagogische Maßnahme, Sonderausgabe, methodische Möglichkeit, schlicht Übungsarbeit“ heißt das bei uns. Und das war 1961. Die Genossen von den pädagogischen Aufsichtsbehörden wollten keine „Strafarbeiten“, die Praktiker wussten, dass es ohne sie nicht geht.

Das zieht sich bis in die heutige Zeit, nur dass heute nicht mehr das SED-Volksbildungsministerium diese Linie vorgibt, sondern die Kultusministerien der Länder.

Eine Lehrerin fragt Wanzka: „Aber es entrüstet Sie nicht, dass Ihre Schüler Vogelnester plündern?“ – „‚Nein, nicht so viel!‘, rief ich.“ (S. 73) Strafarbeiten zu verteilen ist also in den Augen Wanzkas schlimmer, als Sperlinge zu fangen, ihnen die Schwanzfeder auszurupfen, damit sie nicht wegfliegen können und sie erbarmungslos zu jagen, wenn sie zu entkommen versuchen.

Aber es kommt noch schlimmer. Wanzka erzählt im Lehrerzimmer: „Als ich so alt war, hätte ich jeden Sommer meine fünf, sechs Krähennester gehabt. Ho, manchmal auch mehr! Und jeder von uns hatte die. Und Tag für Tag kletterten wir hoch und sahen nach, wie weit die Jungen in den Nestern waren.“ (S. 74)

Die Menschenjungen sahen nach, wie weit die Krähenjungen waren: „Und ehe sie dann fliegen konnten, warfen wir sie raus. Und unten spielten wir noch eine  Zeit mit ihnen. Und schließlich bissen wir ihnen der Reihe nach die Köpfe ein und trugen sie nach Hause. – Was! In die Vogelköpfe? – Nein, mehr in das Genick. Ach, das konnte ich schon mit fünf Jahren.“

„Unwahrscheinlich! In einen lebenden Vogelkopf? … Und zuvor haben Sie gespielt mit den jungen Vögeln? – Wie man das tut… Wir haben sie gequält nach allen Regeln der Kunst. Und abends dann saßen wir an den Erlen und freuten uns, wie schön so ein Drosselrohrsänger rufen konnte.“ (Ebenda)

Wie war das, lieber Berthold, mit den „paraphilen“ Phantasien und Taten deines Schützlings Paul, mit den Abseitigkeiten seines sexuellen Denkens und Tuns. Wer so etwas mit jungen Vögeln tun kann, wie es Wanzka beschrieben hat, trägt er dann nicht eine erbarmungslose Brutalität, eine spielerische Quällust in sich, die sich auch auf Menschen übertragen könnte?

Zu Wanzkas Zeiten war das offenbar nichts Besonderes, obwohl ich aus meiner Kindheit in den 50-er und 60-er Jahren so etwas nicht kenne, aber wir beide, lieber Berthold, wuchsen auch nicht in Ostpreußen in der Nähe von Königsberg auf wie Alfred Wellm. Keiner wäre zu Wellms und zu unseren Kinderzeiten auf die Idee gekommen, solche Kinder, die Tiere „nach allen Regeln der Kunst“ quälten, in speziellen Einrichtungen zu separieren und zu therapieren. Allerdings hatten sie sich ja auch – noch? – nicht an anderen Menschen vergangen, sondern „nur“ an Tieren. Aber ist das wirklich so ein großer Unterschied? Wie siehst du das?

*

KarlfürBerthold: Es ist schon ein Unterschied. Mein Paul hatte ja nicht einfach Gewaltphantasien, sondern er hatte sich tatsächlich mit seinen Fingern an seiner kleinen Schwester auf eine direkt sexuelle Weise vergangen.

Karl: Der Beginn der Therapie sollte sein, das klar auszusprechen, nicht in der allgemeinen Öffentlichkeit, aber im eigenen Familiensystem mit den Mitgliedern, die direkt betroffen sind und die den Sachverhalt geistig erfassen können. Einfach wolkig von „paraphilen Phantasien“ zu reden, ist nicht hilfreich, finde ich. Eine klar begrenzte Öffentlichkeit kann Schutz geben; das ist in vielen Zusammenhängen so, nicht nur bei sexuellen Gewalttaten, sondern auch bei politischen. Du hast das gemeinsame Idol unserer Jugendzeit Anton Semjonowitsch Makarenko, fürchte ich, weitgehend vergessen. Hast ihn ausgetauscht gegen irgendwelche Amerikaner, von denen du nun entzückt bist, zum Beispiel gegen Jacob Kounin, den „Vater“ des „Classroom Managements“. Ich finde seine Pädagogik beschränkt im direkten Sinne des Wortes. Makarenko betonte immer, dass das wichtigste Kollektiv für Schüler nicht das Klassenkollektiv sei, sondern das Schulkollektiv.

Damit wehrt er sich gegen die Individualisierung, dass einzelne Lehrer einzelne Klassen unterrichten und erziehen. Der Effekt, dass sich Schüler unterschiedlichen Alters auch gegenseitig erziehen, fällt damit weg, auch die Tatsache, dass eine Lehrer-Persönlichkeit, die gar nicht in der Klasse selbst unterrichtet, eine Wirkung auf sie als Teil des Lehrerkollegiums haben kann, wird so unterschlagen. Aber das jetzt nur nebenbei. Ich will auf eine andere, oben schon angedeutete These Makarenkos hinaus, die genauso gegen den Strom der Zeit gebürstet ist wie die von der überragenden Bedeutung des gesamten Schulkollektivs gegenüber dem Klassenkollektiv.

Nicht geheimnisvolle psychologische Gespräche unter vier Augen sind die Lösung, sondern das Gespräch muss offen mit all denen geführt werden, die von einem Problem betroffen sind und die zum jeweiligen Familien- oder Kindersystem gehören. Stell dir vor, ein Psychologe, ein Beratungslehrer oder sonstwie ein Mensch, der sich zum „Therapeuten“ aufgeschwungen hat (vielleicht hat er an ein paar Wochenenden eine Zusatzausbildung absolviert), leidet selbst unter „paraphilen Phantasien“. Unter vier Augen kann er sie gut pflegen und sie zu seinem eigenen Genuss in Schwingung mit denen eines Kindes oder Jugendlichen bringen, das/den er beraten will/soll.

Wir sollten den Titel unseres Gesprächs ergänzen: Wer kontrolliert die Ämter und die psychologischen Berater bzw. Gutachter?

Das – die klar begrenzte Öffentlichkeit der Beratung – würde ich also unbedingt als Voraussetzung dafür hinzufügen, neben der medikamentösen Behandlung und der Verhaltenstherapie, die du genannt hattest, dass Paul in seiner Familie bleiben kann und nicht in eine jugendpsychiatrische Spezialeinrichtung geschickt wird.

KarlfürBerthold: Ja und dann müsste Paul klar sein, dass, sowie er sich wieder an seiner Schwester oder an einem anderen Menschen vergeht, der ihm unterlegen, also hilflos ausgeliefert ist, er dann sofort aus diesem System herausgenommen wird. Die eine Botschaft für ihn ist:

  • Wir Menschen sind alle irgendwie beeinträchtigt und beschädigt. Aber wir können damit leben lernen, wenn wir uns mit Mitmenschen darüber austauschen können, denen wir vertrauen und mit denen wir uns verbunden fühlen. Wir können uns sozusagen gegenseitig „reparieren“, solange wir ehrlich sind und so lange unsere Gedanken und Gefühle im Fluss sind.

Die andere Botschaft ist:

  • Wenn wir trotz dieser und anderer Hilfen (Medikamente, Verhaltenstherapie) andere Menschen wieder real gefährden, dann ist sofort Schluss, dann bekommen wir eine Auszeit unter Bedingungen, die andere und uns selbst schützen.

Karl: Das könnte von mir sein, alter Freund Berthold. So könnte es gehen.

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